Beginn eines kalten Sommers

Am 25. Mai brachen die drei russichen Gänseforscher Dr. Alexander Kondratyev, Elmira Zainagutdinova und Juri Ainisimov von St. Petersburg in Richtung Kolguev auf. Der Flug führte über Archangelsk nach Nayar-Mar. In Nayar-Mar angekommen, mußte das Team feststellen, dass leider die als Cargo aufgegebene Ausrüstung noch nicht angekommen war. Also warten. In der Zwischenzeit konnten all die wichtigen Dinge besorgt werden, die noch für die drei Monate in der Arktis benötigt wurden.
Erst am Morgen des 29.Mai landete die Expeditionsausrüstung auf dem Flughafen in Nayar-Mar und nur einige Stunden später flog der Helikopter in die Barentsee ab.
Auf Kolguev angekommen, konnte alle mit Erleichterung feststellen, dass der Schnee schon zu schmelzen begonnen hatte. Große Teile der Tundra waren bereits schneefrei und so konnte der Helikopter einen geeigneten Landeplatz am Ufer des Peschanka-Flusses auswählen und dort das Team mitsamt fast zwei Tonnen Ausrüstung und Verpflegung zurücklassen.
Nach dem Aufbau des Camps begannen die drei sogleich mit der Arbeit. Im großen Umkreis wurden die Nester der brütenden Gänse und Watvögel gezählt, mit GPS eingemessen und wichtige Daten zur Eizahl und dem Eigewicht ermittelt. So ist es möglich, den Schlupfdatum der Küken auszurechnen. Zahlreiche Male versuchten die Gänseforscher zudem, Gänse auf dem Nest zu fangen und zu beringen. Nur in zwei Fällen gelang dies wirklich.

Frühjahr auf Kolguev

Kinderstube Arktis

Bereits Anfang Juni schlüpfen die Gänseküken auf Kolguev. Faszinierend ist dabei, dass 95% aller Küken am 5.6. (+/- 2 Tage) aus dem Ei kommen. So schlagen die Gänse der großen Zahl von Freßfeinden ein Schnäppchen: soviele Küken können diese gar nicht fressen, wie es plötzlich in ihren Revieren gibt. Zwar hatten Eisfuchs und Eismöwe sowie die Tundramöwen schon vorher das eine oder andere Ei stehlen können, doch können die Gänse ihre Nester gut verteidigen. Die zunächst langsamen Küken hingegen sind deutlich schwieriger zu beschützen. Doch die Masse machts!
Auch die anderen Vögel der Arktis haben jetzt Nachwuchs. Alpenstrandläfer, Temminkstrandläufer und Kampfläufer nisten hier ebenso erfolgreich wie der Odinswassertreter oder der Zwergstrandläufer. Auch Moorschneehühner gibt es heute wieder zahlreich, nachdem ihr Bestand für einige Jahre sehr niedrig war. An den Gewässern herrscht besonders viel Leben. Hier haben Zwergschwan, Spießente, Bergente und Trauerente ihr Zuhause - und ihre Jungen.

Landschaften - fast wie im Wattenmeer?

Wissenschaftiche Vogelberingung

Ein wichtiges Ziel der Expedition war es neben den brutbiologischen Erkenntnissen, Aufschluss über die Zugwege der dort brütenden Gänse zu gewinnen. Aus diesem Grund wurden eine große Zahl von Gänsen und Watvögeln beringt. Drei deutsche Gänseforscher (Christoph Zöckler, Johan Mooij und Helmut Kruckenberg) flogen über Murmansk nach Kolguev, um diesen arbeitsintensiven Teil der Expedition personell zu verstärken. Während die Watvögel und die Gänseküken nur Vogelwartenringe aus Metall bekamen, wurden 15 Nonnen-, 19 Bless- und 3 Saatgänse mit farbigen, ablesbaren Fuß- bzw. Halsringen markiert.
Als erstes fingen wir in nächster Nähe zum Camp einen Trupp Nonnengänse. Wir hatten die Fanganlage - einen kleinen Coral mit automatischem Eingang und zwei langen trichterförmig verlaufenden Netzseiten - noch nie ausprobieren können, da wir das Netz ganz neu gekauft hatten. Das System allerdings ist oft und lange erprobt. Am Morgen errichteten wir das Netz, dann verteilten wir uns noch einem festen Plan und trieben am frühen Nachmittag mit zwei Leuten die Nonnengänse vom gegenüberliegenden Ufer auf dem Fluss. Mit einer dritten Person und ddem Motorboot wurden die Gänse nun auf das andere Ufer hinübergetrieben, wo sie sich von weiteren zwei Personen in das Netz manövrieren ließen. Nach knapp 1 Stunde hatten wir insgesamt 19 adulte und 20 juvenile Nonnengänse gefangen.

Der Fang von Bless- und Saatgänsen dagegen ist nicht so einfach. Aufgrund der intensiven jagdlichen Verfolgung sind diese Arten auch im Brutgebiet extrem scheu und fliehen schon auf mehr als 1500m Entfernung. Man kann also nur genau beobachten und muss dann die Netzanlage in den üblicherweise genutzten Fluchtweg stellen. Hat man nun die Anlage aufgebaut, muss mindestens einen Tag abgewartet werden, damit die Gänse (hoffentlich) wieder an ihre alte Nahrungsstelle zurückkehren.
Dann geht es los. Mit Sprechfunkgeräten müssen die verschiedenen Teams koodiniert werden, denn man muss sich den Gänsen von verschiedenen Seiten nähern. Kaum hebt einer der Treiber den Kopf über die Hügelkuppe beginnen die Gänse zu rennen. Meist waren wir noch mehr als 500m entfernt, wenn die Gänse sich schon im Coral gefangen hatten.
Eine weitere, ebenso aufwendige Methode ist der Fang in der Tundra. Immer wieder schreckten Gänsefamilien vor uns in der Tundra auf, wenn wir auf unseren Wanderungen vorbeikamen. Dann heißt es ganz schnell das Gepäck abzuwerfen und hinter den fliehenden Gänsen herzurennen! Die Gänse sind stark im Vorteil, kennen sie das Gebiet doch sehr genau und können zudem ausdauernd und schnell rennen. Dennoch fingen wir auf diese Weise zwei der Saatgänse und ebenfalls 2 Blessgänse mit Küken.

Kolguevs wilde Tiere

Prädation - ein erheblicher Faktor

Kolguev ist eine Insel ohne Lemminge. Dennoch ist sie kein Paradies für Gänse. Eigentlich dachten wir, auf eine weitgehend von Prädatoren freie Insel zu kommen, doch das Gegenteil war der Fall. Neben einer besonders hohen Gänsedichte fanden wir auch eine extrem hohe Dichte von Fressfeinden. Eis- und Rotfuchs, Raubmöwen (Schmarotzerraubmöwe und Große Skua), Raufußbussard, Wanderfalke und Eismöwe - sie alle ernähren sich überwiegend von den Gänsen. Doch durch die große Jungenzahl in einem relativ kurzen Zeitraum kann selbst das große Heer von Freßfeinden nicht zu einem totalen Brutausfall der Gänse führen. Es herrscht ein Überangebot, auf das sich die Prädatoren nicht einstellen können.
Der bemerkenswerteste Feind der Gänse ist wohl die Eismöwe. In Größe ungefähr der Mantelmöwe gleich erbeutet sie noch Junge, die fast flügge sind. Prädation beeinflusst zudem das Verhalten der Gänse enorm. Während auf Spitzbergen die Nonnengänse mit ihren Küken nur am Rande der Gewässer weideten (hier stellt der Eisfuchs die größte Gefahr dar), mieden die Gänse auf Kolguev Wasserfläche wo immer es möglich war. Mehrfach konnten wir beobachten wie Eismöwen selbst tauchende Küken erbeuteten! Schwimmen stellt auf Kolguev eine große Gefahr für die Küken dar. Die Familie verstecken sich zwischen den Zwergweiden (Bless- und Saatgans) oder suchen den Schutz der großen Gruppe und bilden in Gemeinschaften von 5-20 Familien regelrechte Kindergärten.
Der Effekt der Prädatoren ist aber zumindest meßbar. Lag der Schlupferfolg noch bei 3,6 Jungen pro Familie, nahm die Jungenzahl kontinuierlich ab und am Ende der Expedition zählten wir noch 2,1 Junge pro Bless- und 2,8 Junge pro Nonnengansfamilie. Wieviele Elternvögel komplett alle Jungen verloren, konnten wir nicht ermitteln. Es wurde aber schon in diesem ersten Jahr deutlich, dass es offenbar erfahrene Paare gibt, die 4-5 Jungen großziehen, und dagegen auch sehr erfolglose Paare, die alle Jungen verlieren.

Der Rückweg

Am 12.8. war dann wieder soweit. Nach zweieinhalb Monaten Arktis (für uns deutsche 5 Wochen) kehrten wir wieder an das Festland zurück. Während in Deutschland Temperaturen bis 40°C geherrscht hatten, waren wir mit 1,5°-15°C gesegnet, dauerhaft starkem Wind und häufigem Regen. So ging eine erlebnisreiche, wissenschaftlich wertvolle und in vielerlei Hinsicht auch anstregende Tour zuende. Wir hatten schon am Vortag den größten Teil unserer Sachen eingepackt und mußten am Morgen des 12.8. nur noch die Zelte abbauen und trocken verstauen. Bis auf die perfekte Trocknung ging auch alles gut. Über das Satellitentelefon hatte uns die SMS erreicht, dass der Helikopter in Nayar-Mar gegen Mittag abfliegen wolle. Da es Sonntag war, hatten wir ausgerechnet, dass die Piloten vermutlich zum Abendbrot zuhause sein sollten und so blieb ein Zeitkorridor von 14-17 Uhr.
Tatsächlich hörten wir genau um 14 Uhr das Brummen eines Hubschraubers. Erst gute fünf Minuten später konnte man ihn erkennen. Zuerst flog er zur Siedlung der Ölsucher und dann kam er direkt auf uns zu.
Das gesamte Team lag auf dem Gepäck als der Mi8 nur drei Meter neben dem Stapel auf der Tundra landete. Mit laufenden Rotoren wurde das gesamte Equipment eingeladen und keine 10 Minuten später waren wir in der Luft.
Wir flogen den Peschanka-River hinunter und über die Salzwiesen und das Watt auf das offene Meer hinaus. Nach 90km erreichten wir Tobseda, wo wir die russischen Kollegen der dortigen Station aufnahmen. Nach einem atemberaubenden Flug über die Tundra des Pechora-Delta erreichten wir die Stadt Nayar-Mar.